Frozen

 

So ein Enkel wie Florian war ein Geschenk. Opa Karl und Florian spazierten am See entlang. Dort wo die große Weide ihre Zweige ins Wasser hängen ließ, türmten sich am Weg entlang Steine, Holz und zerbrochene Schindeln. Hier hatte Opas Haus gestanden. Ein Fischerhaus, wo Opa Karl viele glücklichen Jahre mit seiner Erna verbracht hatte. Bis zu ihrem Tod vor sieben Jahren. Zum Glück gab es seinen Freund Hardy.

 

***

 

Ein Tag kurz nach Ostern. Das Barometer war am Vortag mitsamt dem Nagel zu Boden gestürzt. Er konnte sich noch erinnern, wie sein Vater es aufhängte. Ob der Nagel durchgerostet war? Er würde ein neues besorgen müssen.

 

Der Nebel lag noch über dem See, als Karl im Dunkeln losruderte. Das Regencape rollte er unter den Sitz. Karl summte ein Lied. Er liebte den Morgen. Seitlich erschien ein sanftes Grau. Dort lag die Stadt.

 

Hier müsste ein guter Platz sein. Er warf seine Rute aus, wartete. Der Himmel füllte sich schon mit hellem Rot. Wollte denn heute kein Fisch anbeißen?

 

Ein Ruck. Ein ganzer Schwarm. Und er mittendrin. Wo kamen die den plötzlich her? Und sie bissen. Sein Eimer füllte sich schnell. Die grauen Wolken bemerkte er nicht.

 

Wind kam auf. Erschrocken rollte Karl die Rute ein. Wo kamen so schnell die Wolken her? Er sah nur Wasser, hohe Wasserwellen, Berge, die immer höher wurden. Wo war das Ufer? Immer den Bug gegen die Wellen halten. Ein Kampf. Das Boot wurde hochgeschleudert. Auf einmal Lichter. Vielleicht der Leuchtturm? Durchhalten, gegen die Wut der Elemente, den Sturm, die peitschende Flut. Seine Arme schmerzten. Er wischte sich über die Augen. Schweiß oder Wasser? Zu spät für das Cape.

 

Die Wellen waren schwarz. Schattengespenster. Die Nussschale wurde hochgewirbelt auf den Wellenkamm, stürzte talwärts. Karl riss an den Riemen, ruderte um seine Leben.

 

Alles ging ihm durch den Kopf. Sein Enkel, der noch so klein war. Seine Erna, die in der Klinik lag. Das Barometer, das gestern zerbrochen war.

 

„Hey, Du. Was machst Du hier mitten im Sturm?“ Die Stimme war -unsichtbar.

 

Gab es den Klabautermann wirklich? Vor Schreck rutschten Karl die Paddel aus den Händen.

 

„Komm‘ ich zeige Dir den Weg zu deiner Hütte.“ Ein durchsichtiges Wesen huschte zum Bug des Bootes.

 

Was war das? War er schon tot? Karl versuchte zu sprechen. Es ging nicht. Er ruderte mechanisch hinter dem Geist her. Wohin auch sonst?

 

Er sah nichts. Nur das Gespenst vor dem Bug.

 

Kaum trugen ihn seine Knie, als das Boot an den Steg knallte. Klamme Finger, schmerzende Glieder. Irgendwie gelang es Karl, das Boot zu vertäuen. Sollten die Fische heute Nacht im Eimer bleiben. Er wollte ins Haus.

 

Erna hätte die Fische versorgen können. Aber: Erna war in der Klinik. Karl legte sich geradewegs auf die Ofenbank und schlief bis zum Morgen.

 

***

 

„Opa, warum liegen da Steine?“

 

„Habe ich es dir noch nicht erzählt? Das war unser altes Haus.“

 

Florian schaute sich die Steine ganz genau an. „Und warum wohnst du nicht mehr dort?“

 

„Weil Oma gestorben ist. Ich wollte dort nicht mehr allein leben.“

 

„Opa, tut sterben weh?“

 

Karl rieb sein Kinn. Er dachte lange nach. „Ich weiß es nicht. Aber als Oma starb, hat sie gelächelt.“

 

„Worüber denn?“

 

„Vielleicht weil ich ihr von meinem Freund Hardy erzählt habe.“

 

„Wo ist dein Freund jetzt?“

 

„Komm hier auf die Bank. Ich erzähle dir die Geschichte von meinem Freund, dem mutigen Hardy.“

 

***

 

Hardy war ein Wassergeist. Der war ganz durchsichtig. Doch ich konnte ihn sehen. Ohne ihn hätte ich in dem großen Sturm nicht mehr nach Hause gefunden. Hardy zeigte mir den Weg.

 

Danach kam Hardy jeden Tag. Jedenfalls an den kalten Tagen, wenn ich Feuer machte. Er setzte sich gerne ans Feuer.

 

„Schön warm hast du es hier“, fand er immer, „ich könnte mich glatt in dein Feuer legen. So ganz kurz nur. Das prickelt so genial.“

 

Hardy war hitzesüchtig. Leider bekam er immer Schnupfen vom Feuer. Aber das war ihm das Prickeln wert. „Hatschi“, nießte er zum Abschied und kam am nächsten Abend wieder.

 

***

 

„Ein richtiger Wassergeist? Was hat dir Hardy erzählt?“, der Junge zappelte neben Karl auf der Bank. Florians blaue Augen erinnerten ihn an seine Frau Erna, „kann er denn auch unter das Wasser gehen? Ich wüsste zu gern, wie es da unten aussieht.“ Der Kleine wollte wirklich alles wissen.

 

„Ja, Hardy erzählte mir vom bunten Leben im Bodensee. Von den Schwänen und Enten, von dicken und dünnen Fischen, von Geistern und Nixen. Es gab einen Olm, der auf der warmen Quelle mitten im See lag. Jedem, der näher kam, zeigte er seine Zähne. Der Olm lag einfach da. Er wurde immer fetter und weicher von der Wärme. Den Wassergeistern machte es Spaß, diesen Olm zu ärgern. Sie waren viel zu flink für ihn. Meist waren sie zu dritt, schwammen von hinten an ihn heran und schossen mit einem ‚Buuuuh‘ an ihm vorbei. Der Olm fuhr dann erschrocken hoch, riss das Maul weit auf und brüllte so laut er konnte. Da half ihm kein Grunzen und kein Schnappen. Durch ein Loch zwischen den Felsen beobachteten die Wassergeister den Olm, wie er wütete. Das war für sie richtig gruselig.

 

Was mein Freund jedoch wirklich nicht ausstehen konnte, waren Motorboote in der Nähe des Ufers. Die wirbelten das Wasser auf und machten daraus eine trübe Soße. Davon bekam Hardy Pickel und Pusteln am ganzen Körper. Monatelang schwebte er wie ein mottenzerfressenes Gespenst durch den See.“

 

***

 

Als es nach einem kalten Winter endlich wieder wärmer wurde ging Karl zum Steg und suchte den See ab. Wo war Hardy? Hardy war seit drei Tagen verschwunden. Am vierten Tag war er sicher, dass ihn jetzt auch noch Hardy verlassen hatte. Er würde wohl zu seiner Tochter ziehen. Allein wollte er nicht hierbleiben.

 

***

 

Was war geschehen?

 

Mit der warmen Sonne brachte der Rhein jedes Frühjahr Treibholz und Eisschollen aus den Alpen herab.

 

Auf einer dieser Eisschollen saß die Flussnixe Nyhr. Sie sauste auf ihrem blanken Boot den Rhein hinab bis sie mitten im Treibholz feststeckte. Die Fahrt war zu Ende. Schade. Sie blickte durch Berge von Zweigen und Holz in allen Formen. Weit vor ihr ragten zwei Leuchtfeuer in den Himmel und dahinter glitzerten die Lichter einer Stadt. Sie lugte hinter den Hügel hervor. Der gesamte Rand des Sees schien in gleißende Perlen eingefasst. In ihrem Rücken, dort woher sie kam, erhoben sich die hohen Spitzen ihrer Berge. Doch über ihr blinkten vertraute Lichter vom Himmel. Sterne sagten die Menschen.

 

Nyhr suchte sich einen Weg nach unten ins Nass. Oh, wie war das angenehm. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie ausgetrocknet sie gewesen war. Es war leichtsinnig von ihr. Sie hätte schrumpfen können.

 

Der Grund des Sees war beinahe bodenlos tief.

 

Oben in den Bergen floss das Wasser geradeso über ihre gefrorenen Schätze. Und die waren außergewöhnlich. Gefrorene Skulpturen: Forellen im Flug, zwei Bachneunaugen in Bootform, Krebse im Kampf, Wasserkäfer beim Sonnen, sogar Libellen im Hochzeitsflug. ...